Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Gedenk‑ und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam

Taschenspiegel von Hergart Wilmanns

Aus einer kleinen Spiegelscherbe, die sorgfältig in ein mit rotem Blumenstoff verzierten Pappetui eingeklebt wurde, entstand auf diese Weise ein kleiner aufklappbarer Taschenspiegel. Der mit Bleistift in kyrillisch und lateinisch in der Deckelinnenseite eingeschriebene Name „Wilmanns“ deutet auf ihre einstige Besitzerin: Hergart Wilmanns, die den Spiegel im sowjetischen Strafarbeitslager Workuta nutzte.

Hergart Wilmanns entstammt einer Akademikerfamilie und lebte nach dem Krieg mit Ihrer Mutter in Marknaundorf an der Elbe. Im Mai 1947 lockte ein sowjetischer Militärangehöriger die 19-Jährige unter einem Vorwand von zu Hause weg. Kurz darauf fand sie sich in Gewahrsam des sowjetischen Geheimdienstes wieder. Nach einer Woche überstellte dieser Hergart Wilmanns in das Gefängnis der sowjetischen Militärspionageabwehr in der Potsdamer Leistikowstraße. Aufgrund der Kontakte ihrer Familie zu einem britischen Offizier wurde ihr Spionage für den englischen Geheimdienst vorgeworfen. Sieben Monate verbrachte sie in Potsdam in Untersuchungshaft. Ein Sondergericht in Moskau verurteilte sie aus der Ferne und nur anhand der Aktenlage wegen Spionage zu 10 Jahren Haft in einem Strafarbeitslager, eine Verhandlung hatte nicht stattgefunden. Über das Speziallager Torgau verbrachte der Geheimdienst die junge Frau im Spätwinter 1948 in das GULAG-Lager Workuta, wo sie zur Arbeit in der Krankenstation eingesetzt wurde.

In Workuta gehörte der Spiegel zu den sehr wenigen persönlichen Habseligkeiten, die Hergart Wilmanns besaß. Die Möglichkeit, das eigene Spiegelbild zu betrachten, kann für die Selbstvergewisserung und die Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls von großer Bedeutung sein. Zudem zeugt der ausgeschmückte Taschenspiegel auch von einer gewissen Sehnsucht nach Aufrechterhaltung von Weiblichkeit und vom Rückgriff alltägliche Gewohnheiten und Gegenstände aus dem zivilen Leben vor der Haft. 

Die am Spiegeletui angebrachten, aus Garn  handgefertigten Herzen sind womöglich ein Hinweis darauf, dass Hergart Wilmanns das Stück im Lager von einer Mitgefangenen als Geschenk erhielt. Die Herzen tragen die Aufschrift „7+1“ und „VII 52“. Bei letzterem handelt es sich wahrscheinlich um die Datumsangabe für Juli 1952. Näheres zu diesem Objekt ist leider nicht bekannt. Für Hergart Wilmanns war die Spiegelscherbe zumindest so bedeutend, dass sie sie bei ihrer Entlassung Ende 1953 als Erinnerungsstück mitnahm und Zeit ihres Lebens aufbewahrte.

Hergart Wilmanns Tochter gab den Taschenspiegel und weitere lagerzeitliche Objekte ihrer Mutter 2010 als Schenkung in die Gedenkstätte, wo er seit 2012 in der Dauerausstellung zu sehen ist.

 

Taschenspiegel | Papier, Glas, Baumwolle | 10,0 x 7,5 x 1,0 cm | INV0069